
Mythos agile Transformation
Über die Themen Agilität, agile Organisation und agile Transformation reden zurzeit fast alle. Das ist gut, weil Agilität tatsächlich beim Umgang mit komplexen Herausforderungen und auftretenden Komplikationen in Zeiten des Wandels hilft. Leider beruhen viele Beiträge und Empfehlungen, wie die agile Transformation (angeblich) gelingt, auf einem sehr unterschiedlichen Verständnis davon, was diese Begriffe bedeuten. Dies macht den Dialog über das Gelingen der agilen Transformation unnötig schwierig. Und meist ist das Problem im Verständnis grundlegender. Daher habe ich mir anlässlich meiner Keynote beim Workpath Quarterly im September ein paar Stunden Zeit genommen und mit Hilfe meiner Kollegin Jessica Brachat meine Gedanken dazu aufgeschrieben.
1. Begriffe
Konfuzius und ich sind uns einig, dass wir die Begriffe klären sollten, bevor wir über eine Sache sprechen. In diesem Beitrag verwende ich die folgenden Definitionen, die ihr bitte kritisch hinterfragt und kommentiert:
- Agilität ist die Fähigkeit von Teams und Organisationen,in einem unsicheren, volatilen, dynamischen und komplexen (d.h. VUCA) Umfeldflexibel, anpassungsfähig und schnell (d.h. wirksam) zu agieren. Dafür werden Ansätze und Methoden genutzt, die es den Menschen erleichtern, sich so zu verhalten.
- Eine agile Organisationist eine Organisation, die diese Fähigkeit besitzt, indem sie den Rahmen für agiles Arbeiten schafft und die benötigten Voraussetzungen erfüllt. Agilität gibt es also nur in Reinform (d.h. 100%). Ausnahmen bestätigen allerdings auch in diesem Fall die Regel. Und agile Elemente in einer klassischen Organisation können in bestimmten Kontexten sinnvoll sein.
- Die agile Transformationbeschreibt den Weg zu einer agilen Organisation. Wenn das Ziel der Transformation nicht eine agile Organisation ist, sondern ein sinnvoller anderer Zustand angestrebt wird, dann handelt es sich um eine agile Begleitung einer Veränderung, die ich nicht agile Transformation nennen würde. Ein Kulturwandel mit digitalen Tools wird ja auch nicht digitale Transformation genannt.
Um den Mehrwert agilen Arbeitens in Organisationen zu realisieren, braucht es mehr als agile Methoden und Tools. Es braucht einen Wandel auf verschiedenen Ebenen inklusive Strukturen und Prozesse, Systeme und Tools, Kultur und Werte, Fähigkeiten und Wissen sowie Verhalten aller Beteiligten.
Agilität ist dabei kein Zweck an sich: Agilität ist immer nur Mittel zum Zweck. Organisationen sollten dann eine agile Organisation werden wollen, wenn sie glauben, dass es ihnen dabei hilft, ihren Purpose bzw. ihre Vision zu realisieren. Für die meisten Organisation bedeutet dies eine erhebliche Veränderung, weil sie bisher auf Robustheit und nicht Resilienz ausgelegt sind.
2. Die agile Organisation beschreiben
Eine agile Transformation ist eine komplexe Herausforderung, die erheblich leichter gelingt, wenn alle Beteiligten ein gemeinsames Verständnis davon haben, was es bedeutet, eine agile Organisation zu sein. Ich arbeite dabei gerne mit dem Change Rad, weil die notwendigen Veränderungen in verschiedenen Dimensionen der Organisation anschaulich visualisiert werden.
Abbildung 1 und 2: Change Rad als Tool und als Flipchart im Workshop

Wenn die Führungskräfte und Mitarbeiter (diese Unterscheidung wird es in einer agilen Organisation im bisherigen Sinne übrigens nicht mehr geben) aktiv in die Beschreibung der zukünftigen Organisation eingebunden werden und damit ihr Denken über agiles Arbeiten schärfen, führt dies neben einem gemeinsamen Verständnis zu einem höherem Commitment.
Im Kern des Change Rads befindet sich der Daseinszweck bzw. Purpose der Organisation. Wie oben beschrieben muss jede Organisation dies für sich definieren. Im Kreis um den Kern werden die Richtung und Geschwindigkeit der Veränderung eingetragen. Bei einer agilen Transformation steht dort relativ einfach „agiler werden“. Das klingt jetzt aber nur so einfach, weil es in diesem Beitrag um die agile Transformation insgesamt geht. In der Praxis stellen die Verantwortlichen relativ häufig fest, dass es (vorrangig) um eine bestimmte Facette von Agilität geht bzw. Agilität nur eine von mehreren möglichen Stoßrichtungen ist.
In den folgenden Abschnitten erläutere ich die sechs äußeren Dimensionen des Change Rads. Auf der linken Seite befinden sich die greifbaren Aspekte der Organisation: Produkte und Services, Strukturen und Prozesse und Systeme und Tools. Diese bestimmen das Umfeld, in dem die Mitarbeitenden agieren. Auf der rechten Seite befinden sich die Aspekte, die die Mitarbeitenden beschreiben: Mindset und Werte, Fähigkeiten und Wissen sowie Verhalten.
Mindset & Werte
Über Prinzipien und Werte muss beim Weg zur agilen Organisation nicht lange nachgedacht werden, weil sie im agilen Manifest beschrieben sind. Natürlich ist eine Adaption auf die jeweilige Organisation und deren Herausforderung notwendig, da das agile Manifest die Entwicklung von Software in einem physischen Team betrachtet. Stark vereinfacht geht es beim agilen Arbeiten um ein vertrauensvolles Verhältnis im Team, um Orientierung des Outputs an den Bedürfnissen der User, um Selbstorganisation, um Fokus und um die schrittweise Annäherung an das Ziel in Iterationen.
Wissen & Fähigkeiten
Ein wichtiger Bestandteil jeder Transformation ist die Befähigung der Menschen für das wirksame Agieren in der veränderten Organisation bzw. deren Ausgestaltung. Wenn die Beteiligten zwar eine agile Haltung haben, ihnen aber das Wissen über agilen Methoden und die Fähigkeit zu deren Anwendung fehlt, wird die agile Transformation scheitern. Wichtig ist dabei, das relevante Wissen für alle Beteiligten zugänglich zu machen und nicht einzelne Experten als Wissensträger zu etablieren. Und gegen Learning by Doing spricht auch nichts. Zentral sind neben dem Wissen über agile Methoden und Praktiken vor allem auch eine hohe Fähigkeit zur Selbstreflexion, denn sonst kann Selbstorganisation nicht gelingen.
Strukturen & Prozesse
Wie bereits erwähnt sind eine agile Haltung der Mitarbeitenden und einer Unternehmenskultur im Einklang mit den agilen Werten und Prinzipien ein zentrales Element einer agilen Organisation. Wenn aber die Aufbauorganisation, die definierten Prozesse und die formulierten Rollen das Leben dieser Werte nicht zulassen oder sogar behindern, ist die agile Transformation zum Scheitern verurteilt. Je traditioneller Organisationen aufgestellt sind, umso schwerer ist es, die bestehenden Strukturen aufzubrechen. Agiles Arbeiten ist weit mehr als ein Ablauf, der in ein System integriert werden kann, das auf Robustheit angelegt ist. Agiles Arbeiten zielt auf Resilienz. Daher braucht es insbesondere in der frühen Phase der agilen Transformation eine Balance zwischen der klassischen Aufbauorganisation und einem agilen Vorgehen. Schritte auf dem Weg zu einer agileren Organisation sind zum Beispiel flachere Hierarchien, cross-funktionale Teams mit dynamischen Rollen, Agile Coaches, Design Sprints und Goal Management Frameworks wie OKR.
Tools & Systeme
Um mit agilen Ansätzen zu arbeiten, braucht es die richtigen Tools, die deren Einsatz unterstützen und teilweise überhaupt erst ermöglichen. Eine Kommunikationsplattform zum schnellen Austausch ist einer der wichtigen Bestandteile einer funktionierenden agilen Organisation. Dafür können das vorhandene Enterprise Social Network (ESN) genutzt oder neue Anwendungen wie zum Beispiel Slackeingeführt werden. Für die Steuerung bieten sich unter anderem virtuelle Boards wie zum Beispiel Trello, physische Kanban Boards, ein digitaler Backlog und IT-Tools für die Arbeit mit OKR wie zum Beispiel Workpathan. Eine Liste der Einsatzmöglichkeiten und dafür geeigneten Tools würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Auch Frameworks zur Skalierung von agilem Arbeiten wie zum Beispiel LeSSund SAFeund Entscheidungsdesigns gehören in diese Kategorie, weil sie bestimmte Rollen, Prozeduren, Meeting-Strukturen etc. umfassen.
Produkte und Services
Die Produkte und Services, die eine Organisation entwickelt/produziert und erbringt/verkauft, sind nicht zwingend von der agilen Transformation betroffen, da zentrale Aspekte wie zum Beispiel regelmäßiges Liefern und Orientierung am Kunden typischerweise in der Dimension Mindset & Wertebeschrieben sind. Das Leben dieser Werte beim Gestalten der Produkte muss durch die Gestaltung der Prozesse sichergestellt und darf durch die Aufbauorganisation nicht behindert werden. Wenn man das Change Rad auf einzelne Bereiche einer Organisation anwendet, hat dieses Feld sehr wohl eine Bedeutung, weil bestimmte Leistungen, wie zum Beispiel Bewerberauswahl (oder Budgetplanung) nicht mehr durch Zentralfunktionen wie HR (oder Controlling), sondern von den operativen Einheiten selbst erbracht werden.
Verhalten
Als letzten Bestandteil der ganzheitlichen Beschreibung einer agilen Organisation geht es um das Verhalten der Organisationsmitglieder. Für Führungskräfte bzw. die entsprechende Rolle in der agilen Organisation gilt zum Beispiel, sich selbst zurückzunehmen, Entscheidungsbefugnisse ins Team zu delegieren, einen Rahmen für Selbstorganisation zu schaffen, Störungen zu analysieren und daraus zu lernen. Mitarbeitende dürfen nicht nur Freiheit fordern, sondern müssen eigeninitiativ Themen erkennen und angehen sowie unternehmerische Entscheidungen treffen und die Verantwortung dafür übernehmen. Beim Befüllen bietet sich einerseits ein Start mit der Dimension Verhaltenan, weil hierdurch schnell notwendige Veränderungen im konkreten Miteinander greifbar werden. Andererseits hängt das Verhalten von der konkreten Herausforderung, Situation etc. ab und kann daher nur schwer beschrieben werden, ohne dass diese Parameter bekannt sind. Daher wird das Verhalten häufig im Wechsel mit konkreten Strukturelementen oder Aspekten der Unternehmenskultur beschrieben.
Führung und Innovation
Ich werde häufig gefragt, warum Aspekte wie Führung und Steuerung, Innovation und Qualitätssicherung oder Entscheidungsfindung nicht im Change Rad abgebildet sind. Es seien doch zentrale Elemente einer erfolgreichen Organisation. Ich antworte dann immer, dass ich das auch so sehe und dass sie abgedeckt sind. Man würde es lediglich auf den ersten Blick nicht sehen.
Themen wie Führung sind keine eigene Dimension, sondern verteilen sich auf verschiedene Dimensionen. Führung kann eine Position und eine Rolle sein. Elemente von Führung wie zum Beispiel Feedback können als Prozess beschrieben werden. Bestimmte Haltungen wie zum Beispiel „Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser“ widersprechen agilen Führungsprinzipien wie zum Beispiel Empowerment. Die (jeweils) Führenden, und damit meine ich nicht (nur) die Inhaber/innen von Führungspositionen, benötigen in einer agilen Organisation bestimmte Fähigkeiten. Zudem helfen bestimmte Verhaltensweisen wie zum Beispiel schnelles Umsetzen.
3. Die agile Transformation gestalten
Wenn die Mitarbeitenden in der Organisation ein ausreichendes Verständnis von der angestrebten Veränderung haben, kann der Prozesses zur Realisierung der Transformation gestaltet werden. Die folgenden Fragen sollten bis dahin beantwortet sein:
– Was wollen wir mit der Veränderung erreichen?
– Welche(s) Problem(e) lösen wir?
– Welche Chance(n) realisieren wir?
– Was wird sich im Wesentlichen verändern?
– Was wird stabil bleiben?
– Was passiert, wenn wir uns nicht verändern?
Im Zentrum der agilen Transformation stehen die folgenden Fragen, die frühzeitig und für alle Beteiligten transparent beantwortet werden sollten.
– Wie gestalten wir den Weg vom Heute ins Morgen und weiter ins Übermorgen?
– Wen binden wir wie und wann in den Prozess ein?
– Was ist gewünscht? Was ist erlaubt? Wo sind die Grenzen?
Für die Beantwortung dieser Fragen kann es keine Best Practices geben, da im Rahmen von komplexen Herausforderungen viele (teilweise nicht einmal bekannte) Variablen eine Rolle spielen, die in Abhängigkeit von Organisation und Situation nicht vorhersehbare nicht lineare Auswirkungen haben. Gerne kann aber schon die Beantwortung der Fragen entlang der drei Prinzipien Co-Kreation, Iterationen und Orientierung an den Bedürfnissen der Kunden (in diesem Fall: der Mitarbeitenden) erfolgen.
Auch wenn es keine Best Practices gibt, kann man natürlich einige grundlegende Überlegungen anstellen, diese visualisieren und mit realen Teams bzw. Teilnehmenden auf Veranstaltungen diskutieren. Genau das habe ich u.a. beim Workpath Quarterly im September getan:
Abbildung 3 und 4: Agiles Vorgehen als Konzeptbild und Flipchart im Workshop

Eine zu treffende Entscheidung bezieht sich auf die Prinzipien zur Gestaltung der Transformation: Einerseits sollten agile Prinzipien schon in der frühen Phase der Transformation gelebt werden, sonst wäre es ein Widerspruch zum Zielzustand und das Bestehende wird unabsichtlich bestätigt. Andererseits stehen agile Prinzipien häufig im Widerspruch zur bestehenden Kultur und agile Methoden können nicht mit der gelebten Praxis in Einklang gebracht werden. Meine Erfahrung: mutig so viel agiles Arbeiten wie möglich ausprobieren und dabei achtsam die (Re-)Aktionen der direkt (und indirekt) Beteiligten beobachten.
Bei der Ausgestaltung des Prozesses sollte zu jedem Zeitpunkt der User der Transformation im Mittelpunkt stehen. Auf dem Weg zur agilen Organisation sind dies per Definition alle Mitarbeitenden. Durch Co-Kreation werden die betroffenen Menschen nicht nur zu Beteiligten, sondern zu Co-Verantwortlichen. Alles außer Selbstorganisation scheint auf dem Weg zu mehr Selbstorganisation eingeschränkt sinnvoll. Begründete Ausnahmen sind möglicherweise in der bestehenden Kultur zu finden.
Über das agile Methodenset hinaus können alle bekannten Change-Methoden und -Tools eingesetzt werden, die den Prozess unterstützen. Wichtig dabei ist, dass sie zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden: natürlich nicht im Sinne einer klassischen Meilensteinplanung weit im Voraus, sondern flexibel mehr so wie Flexisteine (ich mag den Begriff von Wolfram Müller).
Bevor in einem Transformationsprozess organisationsweit agile Methoden Anwendung finden, hilft es ungemein, ein einheitliches Verständnis dieser Praktiken und deren Einsatzmöglichkeiten aufzubauen. Eigentlich sollte dies nicht notwendig sein müssen, weil Scrum, Design Thinking und wie sie alle heißen ziemlich klar beschrieben sind und nachgelesen werden können. Irgendwie gewinnt das ungesicherte Halbwissen in traditionellen Organisationen aber ziemlich schnell die Oberhand, so dass präventive und reaktive Interventionen meist notwendig sind.
Ich persönlich mag ein Backlog mit Anforderungen (im Sinne von Scrum) bzw. eine Liste der Optionen für nächste Schritte (im Sinne von Lean Start-Up) als Basis für die agile Transformation. Dort können sich alle Co-Verantwortlichen entsprechend ihrer aktuellen Herausforderungen, Erfahrungen, verfügbaren Zeit etc. den Beitrag zur agilen Transformation raussuchen (und auch eintragen), der für sie zum jeweiligen Zeitpunkt sinnvoll und möglich erscheint. Je größer die Organisation, desto wichtiger ist es, das gewählte Vorgehen beim Realisieren der Anforderungen und die Learnings daraus proaktiv transparent zu machen, da viele Menschen vor einer ähnlichen Herausforderung stehen und für sich einen geeigneten Umgang damit finden müssen.
4. Fazit und Ausblick
Die agile Transformation, verstanden als der Weg zur agilen Organisation, ist eine komplexe Herausforderung, bei der es viel zu bedenken und noch mehr zu tun gibt. Wenn man viele Chancen bekommt, Organisationen beim Tun zu helfen, bleibt (zu) wenig Zeit zum Aufschreiben und Teilen der Erfahrungen. Das ist schade. Daher habe ich mir zumindest einmal die Zeit genommen, meine grundlegenden Gedanken zu aktualisieren. Wegen der wenigen Zeit haben es (zu) wenig konkrete Ideen in diesen Beitrag geschafft. Dies hole ich Anfang 2020 nach. Freue mich über alle, die Interesse an einer Co-Kreation haben - gerne auch mit einem Forschungsanteil im Rahmen meiner neuen Rolle als Professor an der Hochschule Macromedia.